Auf sechs Jahrzehnte erfolgreiche Arbeit kann im November 2025 die Lebenshilfe Kirchheim zurückblicken. Aus kleinen Anfängen heraus ist eine Einrichtung entstanden, die für große und kleine Menschen mit Behinderung und ihre Familien eine wichtige Anlaufstelle ist. Die Einrichtung bietet Angebote die Mut machen. Zwei, die diese Entwicklung maßgeblich mitgestaltet haben, sind Bärbel Kehl-Maurer und Irmgard Schwend aus Nürtingen. Als Mütter von Kindern mit Behinderung kennen sie die Sorgen und Nöte und wissen, was Familien brauchen. Bärbel Kehl-Maurer engagiert sich seit 1980 im Vorstandsgremium und ist seit 2002 Vorstandsvorsitzende der Lebenshilfe Kirchheim. Irmgard Schwend ist seit elf Jahren Vorstandsmitglied und zudem stellvertretende Vorsitzende.
Wie kamen Bärbel Kehl-Maurer und Irmgard Schwend zur Lebenshilfe? „Ich habe für meinen dreieinhalbjährigen Sohn einen Kindergartenplatz gesucht“, erinnert sich Bärbel Kehl-Maurer. Schon nach kurzer Zeit wurde sie zur Elternvertreterin gewählt. Eine engagierte Mutter fehlte bis dato im Vorstand. Auf Vorschlag der damaligen Kindergartenleiterin ließ sich die Nürtingerin aufstellen und wurde gewählt. Allerdings, so Kehl-Maurer heute, habe sie sich schon nach den ersten Sitzungen ernsthaft überlegt, wieder aufzuhören. Auf sie wirkte die Arbeit verstaubt. In einem Brief an den Geschäftsführer fasste sie ihren Frust zusammen und machte Verbesserungsvorschläge. Ihre Intention: „Zur Vereinsarbeit gehört ein lebendiges Vereinsleben mit Festen und regelmäßigen Mitgliederbriefen.“ Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Mir wurde jegliche Hilfe zugesagt.“
Irmgard Schwend lebte mit ihrem Mann im Fichtelgebirge, weit weg vom Freundeskreis in Esslingen, als ihr Sohn mit einer Behinderung geboren wurde. „Wir waren völlig auf uns allein gestellt“, sagt sie. Eine Freundin riet ihr, mit der Lebenshilfe Marktredwitz Kontakt aufzunehmen. Der Sohn besuchte einen kirchlichen Kindergarten und fühlte sich in der von Ordensschwestern geleiteten Einrichtung sehr wohl. Später zog Familie Schwend nach Nürtingen. Im Müttertreff der Bodelschwinghschule lernten sich Irmgard Schwend und Bärbel Kehl-Maurer kennen: „Wir haben uns verstanden gefühlt, haben uns gegenseitig unterstützt und in schwierigen Situationen auch aufgefangen“, sagt Irmgard Schwend. „Damals haben wir erlebt, wie wichtig so eine Gruppe ist“, ergänzt Bärbel Kehl-Maurer.
Dieses Miteinander hat über Jahrzehnte gehalten. Aus den Kindern wurden Erwachsene. Irmgard Schwends Sohn lebt heute im Wohnheim in der Saarstraße. Bärbel Kehl-Maurers Sohn ist schon gestorben.
Dass die Eltern Ideen einbringen und umsetzen konnten, das war für die Vorstandsmitglieder Ansporn und Motivation. Entstanden ist so beispielsweise die „Chaotenband“, eine Gruppe von behinderten und nichtbehinderten Musikern, die gleich bei ihrem ersten Auftritt einen Riesenerfolg feiern konnte. „Der ganze Saal ist mitgegangen“, freut sich Bärbel Kehl-Maurer nach Jahren noch über den Erfolg.
Das gute Miteinander im Verein, sagt Irmgard Schwend, habe sie in all den Jahren über Höhen und durch Tiefen getragen. „Wir haben uns über Therapien ausgetauscht, Adressen von Ärzten weitergegeben oder ein Wochenende für Mütter organisiert“, nennt sie nur ein paar kleine Beispiele.
Beide Frauen kennen die Lebenshilfe als betroffene Mütter, aber auch als bürgerschaftlich Engagierte. Was hat sich über die Jahre verändert, was wurde erreicht?
„Unser Angebot hat ganz klein angefangen.“ Die ehemalige Schule, die in einer Baracke in Kirchheim startete, hat der Landkreis übernommen und daraus ist die Bodelschwinghschule entstanden. In die Aufbauphase der Lebenshilfe, so Bärbel Kehl-Maurer, habe der Verein sehr viel Energie hineingesteckt. „Das alles konnten wir nur stemmen, weil Eltern mit Fachleuten und Politikern eng zusammengearbeitet haben.“ Wichtige Errungenschaften sind der Carl-Weber-Kindergarten, das Wohnheim in der Saarstraße, die Offenen Hilfen, der familienentlastende Dienst, die ergänzende Nachmittagsbetreuung an der Verbundschule oder die Ferienangebote. „Vieles ist gewachsen und um vieles haben wir gekämpft“, sagt die Vorsitzende des Vereins. Einrichtungen und Errungenschaften, die für Eltern heute ganz selbstverständlich seien. „Viele wissen nicht, dass wir eine Selbsthilfeorganisation sind.“
Jetzt gehe es auch darum, das Erreichte der gesellschaftlichen Situation anzupassen. „Wir sind stolz darauf, dass Menschen mit Behinderung viel gelernt haben, ihre Rechte einfordern und selbstbestimmt leben können“, sind sich die zwei Frauen einig. Vieles werde heute als normal wahrgenommen, „für uns war es das nicht“.
Kein Grund indes, die Hände in den Schoß zu legen. „Wir müssen den Wandel mitgestalten und immer wieder schauen, was wir für Menschen mit Behinderungen und die Familien verbessern können.“
Dass es ein Wohnheim gibt, mit dem sich die Menschen mit Behinderung ein Stück Selbstständigkeit erobert haben, ist heute selbstverständlich. Doch gibt es für die älter werdenden Bewohner auch Plätze wenn sie mehr Pflege benötigen, oder muss sich die Lebenshilfe auch hier ein Angebot überlegen? Ist ein erster Schritt die Tagesstruktur für Senioren unserer Wohnangebote, die 2026 in der Saarstraße starten wird? Herausforderungen, die vor 30 Jahren noch keine Rolle spielten, weil die Menschen damals eher selten das Rentenalter erreichten. Man spürt, die Vorstandsfrauen haben im Blick, was Menschen mit Behinderung und ihre Familien brauchen.
Ein großes Thema innerhalb der Lebenshilfe sind die pränatalen Bluttests, die auch von Krankenkassen übernommen werden. Was passiert, wenn sich Eltern für ein Kind mit Behinderung entscheiden? Bärbel Kehl-Maurer weiß von jungen Paaren, dass sie oft mit der Frage konfrontiert werden, „hätte das sein müssen.“ Als Mutter und eines behinderten Sohns und Lebenshilfe-Vorstandsvorsitzende bekommt sie bei solchen Aussagen Gänsehaut.
Dank der Lebenshilfe und ihren engagierten Unterstützerinnen und Unterstützern wurde in den zurückliegenden Jahren in Sachen Inklusion viel erreicht. Doch Bärbel Kehl-Maurer und Irmgard Schwend erkennen auch Tendenzen, dass das Rad der Inklusion zurückgedreht werden könnte. Der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung drohe in Zeiten wirtschaftlicher Krisen zu schrumpfen.
Außerdem weiß die ehemalige Realschul-Konrektorin Bärbel Kehl-Maurer etwa von der PH Ludwigsburg, dass Gelder für den Studiengang Inklusive Pädagogik/Heilpädagogik gekürzt worden seien. Oder ein anderes Beispiel: Was läuft in unserer Gesellschaft eigentlich schief, fragen sich die Vorstandsfrauen der Lebenshilfe, wenn sie erfahren, dass Eltern sich um einen Platz für ihr Kind in einer Sonderschule anstatt in einer Gemeinschaftsschule bemühen. Aus ihrer Sicht ein falsches Signal. „Damit gehen wichtige Begegnungsmöglichkeiten zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern verloren.“ Und dabei weiß man gerade aus unserem inklusiven Carl-Weber-Kindergarten, dass dieses Miteinander zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern positiv für beide Seiten ist. „Lehrer bestätigen, dass Kinder ohne Behinderung, die den inklusiven Carl-Weber-Kindergarten besucht haben, durch ihr gutes Sozialverhalten auffallen. Diese Kinder sind es gewöhnt, die Schwächeren zu unterstützen und ihnen zu helfen.“
Von Anneliese Lieb